Unbestimmte Rechtsbegriffe: Umgang in Jura-Klausuren
Das Wichtigste in Kürze:
- Unbestimmte Rechtsbegriffe sind solche Begriffe, deren Auslegung wertungsbedürftig ist (z.B. Fahrlässigkeit oder der Gefahrbegriff im Polizeirecht)
- Aufgrund der hohen Bedeutung in der Praxis, ist die Prüfung von unbestimmten Rechtsbegriffen auch in Klausuren und Hausarbeiten von sehr hoher Bedeutung.
- Die Prüfung von unbestimmten Rechtsbegriffen erfolgt in vier Schritten: Zuerst wird der allgemeine Maßstab genannt, anschließend wird dieser Maßstab konkretisiert.
Was sind unbestimmte Rechtsbegriffe?
Unter unbestimmten Rechtsbegriffen versteht man Begriffe, deren Auslegung wertungsbedürftig ist. Das Gegenteil von unbestimmten Rechtsbegriffen sind bestimmte Rechtsbegriffe, diese sind nicht auslegungsbedürftig.
Beispiele für unbestimmte Rechtsbegriffe:
- Fahrlässigkeit (z.B. §§ 222, 229 StGB; §§ 276, 823 BGB)
- Üblicher Gebrauch iSv. § 434 Abs. 3 Nr. 2 BGB
- Gefahrbegriff im Polizeirecht
- Unzuverlässigkeit im Gaststättenrecht
- Treu und Glauben nach § 242 BGB
Sind unbestimmte Rechtsbegriffe klausurrelevant?
Aufgrund der hohen Bedeutung in der Praxis, ist die Prüfung von unbestimmten Rechtsbegriffen auch in Klausuren und Hausarbeiten von sehr hoher Bedeutung. Insgesamt handelt es sich wahrscheinlich um die Problemart mit der höchsten Klausurrelevanz. Dies liegt auch daran, dass man die Subsumtion nicht auswendig lernen kann. Es ist stets eine Prüfung des Einzelfalls, der auch von bekannten Fällen abweichen kann, erforderlich, sodass Klausurersteller mit Problemen in der Subsumtion gut das juristische Handwerkszeug prüfen können.
Der Subsumtion unter unbestimmte Rechtsbegriffe wird in Vorlesungen in der Regel nur oberflächlich behandelt. Stattdessen werden theoretische Probleme, etwa Meinungsstreitigkeiten, ausführlich behandelt. Aufgrund der hohen Bedeutung in Klausuren und Hausarbeiten ist es trotzdem wichtig, die Subsumtion sicher zu beherrschen.
Grundsätzlich ist die Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen der vollständigen gerichtlichen Kontrolle zugänglich. Nur ganz ausnahmsweise besteht ein gerichtlich nur eingeschränkt kontrollierbarer Beurteilungsspielraum. Zum Beurteilungsspielraum [Link] haben wir einen gesonderten Beitrag verfasst.
Umgang mit unbestimmten Rechtsbegriffen in Jura-Klausuren
Herausforderungen in der Subsumtion treten dort auf, wo das Gesetz wertungsbedürftige Rechtsbegriffe verwendet. Denn wenn etwa eine Frist berechnet werden muss, dann ist die Definition wertungsfrei, sodass auch kein Platz für eine umfangreiche Auslegung besteht, die Frist wurde entweder eingehalten oder nicht.
Schwieriger ist demgegenüber die Subsumtion unter unbestimmte Rechtsbegriffe. Fahrlässig i. S. d. Zivilrechts handelt, wer die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht einhält“. Diese Definition ist extrem wertungsbedürftig. Es gibt keine festen Kriterien, wann die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ eingehalten wird. Aus dieser Wertungsbedürftigkeit folgt die besondere Schwierigkeit der Subsumtion.
Denn um mit dem unbestimmten Rechtsbegriff umgehen zu können, muss man zuerst den Maßstab konkretisieren, anhand dessen geprüft wird, ob die Voraussetzungen des unbestimmten Rechtsbegriffs vorliegen. Diese Aufgabe stellt eine Herausforderung dar, da die Anforderungen in jedem Fall unterschiedlich sind, sodass man für jeden Einzelfall herausarbeiten muss, anhand welcher Kriterien ermittelt werden soll, ob die im Verkehr erforderliche Sorgfalt gewahrt wurde. In einem zweiten Schritt muss man dann prüfen, ob diese Voraussetzungen im konkreten Fall vorliegen.
Prüfung von unbestimmten Rechtsbegriffen in der Klausur
Bei der Prüfung von unbestimmten Rechtsbegriffen handelt es sich um eine normale juristische Prüfung mit einer ausführlichen Definition und Subsumtion. Entsprechend sollte man bei der Darstellung des Problems den Gutachtenstil (Hier mehr zum Gutachtenstil) als Grundstruktur verwenden.
Die Prüfung von unbestimmten Rechtsbegriffen erfolgt in vier Schritten:
- Schritt: Den allgemeinen Maßstab nennen.
- Schritt: Den konkreten Maßstab herausarbeiten.
- Schritt: Die Subsumtion unter den konkreten Maßstab.
- Schritt: Das Ergebnis nennen.
1. Schritt: Maßstab
Nach dem Obersatz sollte man entsprechend dem Gutachtenstil die allgemeine Definition nennen. Bei fast allen unbestimmten Rechtsbegriffen gibt es eine allgemein anerkannte Definition, die man auswendig lernen sollte, da von Bearbeitern erwartet wird, dass solche Definitionen beherrscht werden. Dies gilt natürlich nicht für Rechtsbegriffe, die nicht zum Prüfungsstoff gehören. In einem solchen Fall kann man üblicherweise eine bekannte Definition leicht abgewandelt verwenden.
Beispiele:
- Fahrlässigkeit (Zivilrecht): Wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht beachtet
- Gefahr iSd. polizeirechtlichen Generalklauseln: Eine Sachlage, die sich bei ungehindertem Ablauf, aus Sicht eines objektiven Beobachters, ex ante, in absehbarer Zeit, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in einen Schaden an einem Schutzgut niederschlagen wird.
- Unverzüglich: Ohne schuldhaftes Zögern (vgl. § 121 Abs. 1 BGB)
2. Schritt: Konkretisierung des Maßstabs
Die Definition allein ist allerdings meistens so wertungsbedürftig, dass die Definition noch weiter konkretisiert werden muss, damit eine Verbindung zum Einzelfall hergestellt werden kann. Deshalb ist es wichtig, in einem zweiten Schritt die Definition zu konkretisieren. Hierbei sollte herausgearbeitet werden, welche Aspekte bei der Prüfung des unbestimmten Rechtsbegriffs zu berücksichtigen sind. Hierfür gibt keine festen Kriterien, die man auswendig lernen kann. Stattdessen bietet es sich an, die Aspekte aus dem Sachverhalt selbst zu abstrahieren. Dafür muss man abstrakte Begriffe für die Aspekte finden, zu der die Klausur viele Informationen enthält. Ein solches Vorgehen hat den Vorteil, dass man die Aufgabe, vor die man als Klausurbearbeiter gestellt wird, löst. Denn als Klausurbearbeiter hat man die Aufgabe, den vorliegenden Sachverhalt rechtlich zu würdigen. Indem man die Konkretisierung der Definition aus dem Sachverhalt selbst zieht, kommt man dieser Aufgabe nach.
Beispiel: Sonstige niedrige Beweggründe, § 211 Abs. 2 Var. 4 StGB
- Sachverhalt: Eine Frau möchte sich von ihrem Mann scheiden lassen. Die beabsichtigte Scheidung empfindet der Mann als schwerwiegende Ehrverletzung, indem diese seinem Herrschaftsanspruch über die Frau widerspricht. Auch widerspricht eine solche selbstständige Entscheidung der Frau seinem Rollenverständnis. Dies treibt den Mann so zur Wut, dass er versucht die Frau zu töten.
(Ausführlich: BGH-Urteil v. 22.07.2020 - 5 StR 543/19)
Konkretisierung der Definition bei sonstigen niedrigen Beweggründen:
- Allgemeine Definition: Beweggründe, die nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und besonders verwerflich sind.
- Konkretisierung des Maßstabes: Bei der Bewertung, ob die Beweggründe nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und besonders verwerflich sind, ist eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen, unter Berücksichtigung der Handlungsantriebe (folgt aus der Sachverhaltsinformation der Ehrverletzung), der Persönlichkeit des Täters (folgt aus der Sachverhaltsinformation, dass der Mann meint, er habe einen Herrschaftsanspruch über die Frau) und des seelischen Zustands des Täters (aufgrund der Sachverhaltsinformation, dass der Mann wütend war).
3. Schritt: Subsumtion
Wenn die Prüfung des unbestimmten Rechtsbegriffs ein Klausurproblem darstellt, dann ist entsprechend auch eine umfangreiche Subsumtion erforderlich. Als Klausurbearbeiter hat man in der Subsumtion die Aufgabe zu prüfen, ob die Voraussetzungen, die man in der Definition aufgestellt hat, vorliegen. In der konkretisierten Definition hat man bereits herausgearbeitet, welche Aspekte für die Subsumtion von Bedeutung sind. Anschließend muss man in der Subsumtion entsprechend für die jeweiligen Aspekte herausarbeiten, wie sich diese auf das Ergebnis auswirken, also ob die einzelnen Aspekte jeweils für oder gegen das Vorliegen der Voraussetzungen der Definition sprechen.
Bei der Prüfung der einzelnen Aspekte kann man meist auf eine strenge Prüfung im Gutachtenstil verzichten. Stattdessen reicht es aus, wenn man erklärt, welchen Einfluss dieser Aspekt für die Prüfung des unbestimmten Rechtsbegriffs hat. Allerdings ist in der Subsumtion ein strukturiertes Vorgehen sehr wichtig. Wenn es etwa mehrere Aspekte gibt, die erörtert werden, wie in dem Beispiel oben die Tatumstände, die Persönlichkeit des Täters und die Handlungsantriebe des Täters, dann ist es hilfreich, diese Aspekte jeweils getrennt zu erörtern. Hierbei ist es hilfreich, die einzelnen Aspekte durch Absätze optisch zu trennen, damit die Ausführungen für den Korrektor leicht verständlich sind.
4. Schritt: Ergebnis
Am Ende ist kurz das Ergebnis der Subsumtion festzustellen.
Gesamtbeispiel
- Sachverhalt: Eine Frau möchte sich von ihrem Mann scheiden lassen. Die beabsichtigte Scheidung empfindet der Mann als schwerwiegende Ehrverletzung, indem diese seinem Herrschaftsanspruch über die Frau widerspricht. Auch widerspricht eine solche selbstständige Entscheidung der Frau seinem Rollenverständnis. Dies treibt den Mann so zur Wut, dass er versucht die Frau zu töten.
(Ausführlich: BGH Urteil v. 22.07.2020 - 5 StR 543/19) - Subsumtion (Dies ist ein Auszug aus einer Examensübungsklausur, die mit 13 Punkten bewertet wurde):
Auch könnte das Mordmerkmal der sonstigen niedrigen Beweggründe vorliegen.
Dies ist der Fall, wenn die Beweggründe nach allg. sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und besonders verwerflich sind.
Hierbei ist zu beachten, dass schon der Totschlag selbst verwerflich ist, sodass eine besonders strenge Prüfung erforderlich ist. Insgesamt ist eine Gesamtbetrachtung, unter Berücksichtigung der Handlungsantriebe, der Persönlichkeit und des seelischen Zustands des Täters, vorzunehmen.
a) Persönlichkeit des Täters
In der Gesamtabwägung ist zum einen ist die Persönlichkeit des Täters zu berücksichtigen. Der Mann ist der Meinung, er habe einen Herrschaftsanspruch über seine Frau. Allerdings hat in Deutschland grundsätzlich jede Person das Recht frei über seine eigenen Handlungen zu entscheiden. Mit dem Herrschaftsanspruch negiert der Mann elementare Rechte und Freiheiten seiner Frau und behandelt Sie dadurch nicht als eigenständigen Menschen, sondern wie eine Sache. Dieser Charakterzug des Täters offenbart eine besondere Verwerflichkeit, indem er seine Frau als sein „Eigentum“ betrachtet.
b) Handlungsantriebe des Täters & seelische Zustand
Des Weiteren ist auch der Handlungsantrieb und der seelische Zustand des Täters zu berücksichtigen. Grundsätzlich handelt es sich bei Wut um eine emotionale Erregung, die isoliert nicht bewertet werden kann. Entscheidend ist vielmehr, was die Wut hervorgerufen hat. Wenn die Wut eine menschlich verständliche Reaktion auf vorherige Handlungen war, dann kann dies dafür sprechen, dass die besondere Verwerflichkeit entfällt, basiert sie allerdings auf einer verwerflichen Gesinnung, führt dies dazu, dass auch das Handeln in Wut besonders verwerflich ist. Hier wurde die Wut jedoch dadurch ausgelöst, dass es der Mann als Ehrverletzung empfindet, dass seine Frau eine freie, selbstständige Entscheidung trifft. Da eine solche Entscheidung der Frau zu respektieren ist, ist die Reaktion des Mannes menschlich nicht nachvollziehbar. Vielmehr basiert die Wut auf Besitzansprüchen, also – wie dargestellt – einer besonders verwerflichen Gesinnung, daraus folgt, dass auch der Handlungsantrieb besonders verwerflich war.
c) Ergebnis
Somit sprechen sowohl die Persönlichkeit des Täters, als auch der seelische Zustand und die Handlungsantriebe für eine besondere Verwerflichkeit, sodass insgesamt Beweggründe vorliegen, die auf unterster Ebene stehen, sodass sonstige niedrige Beweggründe vorliegen.